Nach dem Krieg kam der Hunger (Glinde 1945)

 

Wir hatten Frieden und waren hoffnungsfroh.
Wenn nur der Magen nicht so schrecklich knurren würde. Meine Mutter hatte große Mühe, jeden Tag ein Essen auf den Tisch zu bringen. Ich half ihr dabei, so gut ich konnte. Einige Bauern verkauften auf dem Felde, wenn die Ernte beendet wurde, „ausschüssiges“ Gemüse, wie Wurzeln, Steckrüben und Kohl. Erfuhren  wir von solchen Aktionen, machten meine Mutter und ich uns mit Körben auf den Weg, um etwas Essbares zu ergattern. Ich war dann immer die „Nachbarstochter“, und so gab es zwei Portionen.

Im Sommer 1945 gingen in unserem Dorf Sorge und Angst um. Es hieß, daß entlassene polnische und russische Kriegsgefangene aus dem am Dorfrand gelegenen ehemaligen Gefangenenlager umher zögen und Rache nähmen an ihren Peinigern aus der Kriegszeit. Dieser und jener sei am Waldesrand erhängt worden. Ob an diesem Gerücht etwas Wahres dran war, habe ich nie erfahren. Jedenfalls gingen Männer aus dem Dorf nachts um die Siedlung Wache, um etwaige Überfälle abzuwehren. In dieser Zeit ergab sich einmal wieder die Chance, in einem 4 Kilometer entfernten Dorf etwas Essbares zu bekommen. Es war schon Herbst und der Kohl wurde für den Winter eingemietet. Meine Freundin Ursula und ich machten uns nach dem Schulunterricht mit einem Blockwagen auf den Weg aus dem Dorf hinaus über die kleine Beek, durch aufgeweichte Feldwege und an noch bestellten Kohl- und Kartoffeläckern vorbei.

Wir waren sehr unternehmungslustig und freuten uns schon darauf, einen Wagen voll Weißkohl für unsere Lieben einheimsen zu können. Als wir dann endlich bei dem Bauern Schröder angekommen waren, wurden wir arg enttäuscht. Jeder bekam nur drei bis vier kleine mickrige Kohlköpfe, die für die Einmietung zu minderwertig waren. Der Abend dämmerte schon im Westen, als wir uns verdrossen auf den Heimweg begaben. Das graue Wetter machte unsere Stimmung depressiv und ängstlich. Dieser Umstand hinderte uns jedoch nicht, von einem Kohlfeld  noch ein paar große, prächtige Exemplare zu ernten und auf unseren Bollerwagen zu laden. Die Strafe folgte auf dem Fuß.

Auf dem matschigen Feldweg wurde unser Gefährt so schwer und blieb in den Treckerspuren stecken, daß wir uns mächtig anstrengen mussten um weiter zu kommen. Die Vorderräder verkanteten sich, ein falscher Ruck und die Deichsel brach! Nun schien alles aus zu sein. Schnell brach die Dunkelheit herein und Horrorbilder überfielen uns. Die schwarzen Bäume am Wegesrand standen wie Galgen bedrohlich da, und wir beteten laut, ja keines Aufgehängten ansichtig werden zu müssen oder selbst ergriffen zu werden. Zum Glück hatten wir ein dickes Tau dabei, das wir an den Vorderrädern des Wagens befestigten, um daran zu ziehen, und so ging es im Schneckentempo voran. Endlich war das erste Haus unseres Dorfes zu sehen, das wir erleichtert anstrebten. Die Bewohner waren damit einverstanden, dass wir unseren Blockwagen bis zum nächsten Tag bei ihnen stehen ließen.

Ohne Weißkohl liefen wir froh nach Hause, müde und hungrig. Unsere Eltern und Geschwister waren schon voller Sorge über unser Ausbleiben die Dorfstraße hinab gelaufen, um uns zu suchen; denn es war inzwischen später Abend geworden. Zur Belohnung gab es an den nächsten Tagen Kohl und Kartoffeln zu essen -

Hammelfleisch war leider nicht dabei.

 

Hamburg, Dezember 2003